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Für die Reha stimmenWährend ihrer Reha in der Fontane-Klinik im brandenburgischen Mittenwalde kam Sylvia N. zu der Erkenntnis: „Wenn du dich an die glücklichen Augenblicke deiner Kindheit erinnern möchtest, dann such sie nicht in einem Schweineohr!“ Hierüber schrieb sie eine gefühlvolle und unterhaltsame Geschichte, die Sie hier lesen können.
Das Schweineohr
Von Sylvia N.
Eine Vorliebe für Schweineohren hatte ich schon immer. Leider ist dieses Gebäck in Schleswig-Holstein nicht erhältlich. Schweineohren kennt das Land der Franzbrötchen nicht.
Beim Einkaufen lachte mich nun hier im Brandenburgischen ein Schweineohr an. Welch eine leckere Einladung lag dort in der Auslage. Es war das letzte Schweineohr und es bat förmlich darum mitgenommen zu werden.
Eine kurze Überlegung und ich kam zu dem Schluss, dass es ja in die bevorstehende Abendmahlzeit integriert werden könnte. Die Brotmenge halbieren und schon „zack“ passt! Schließlich ist es ja keine Zwischenmahlzeit. Das Schweineohr kam also mit in die Selbstversorgerküche.
Vorfreude auf die besondere Leckerei beim Abendessen ergriff mich.
Also brav das Schälchen Salat und ein Vollkornbrot gegessen, um mich dann dem Schweineohr widmen zu können. Irgendwie war ich automatisch davon ausgegangen, dass der Blätterteig mit Zuckerguss wahrscheinlich keine langanhaltende Sättigung mit sich bringen würde. Doch Schluss mit den Überlegungen und ran ans Werk! Ein Backwerk wollte genossen werden!
Der erste Bissen mit geschlossenen Augen. Die Erwartung des Knusperns des Teiges mit der nachfolgenden Süße des Zuckergusses! FREUDE! …
Kauen … Auf die Erfüllung der Erwartungen wartend … Wieder Kauen …. Kein knackiges Knuspern! Stattdessen unglaublich viel Teig im Mund. Statt knusprig eher talgig, schmierig. Süße! Keine angenehme Süße als Gegenpart zu dem knusprigen Teig, sondern Süße, die aufdringlich fast alles überdeckt. Gemeinsam mit dem schmierigen Fettgeschmack des Teiges hat das alles so gar nichts mit dem Geschmack eines Schweineohres zu tun, wie ich es kenne.
Das halbe Schweineohr ist vertilgt. Genuss ist es nicht – eher Enttäuschung. Ich könnte aufhören, das Desaster beenden. …. Aber es ist ein Schweineohr. Mein Lieblingsgebäck, dass ich nicht immer bekommen kann. Es schmeckt nicht! Aber ich esse es auf! Warum? Warum esse ich etwas auf, was mir nicht schmeckt? Ich bin enttäuscht. Warum können die Bäcker keine Schweineohren wie früher backen? Die ganze Situation verwirrt mich. Liegt es am Schweineohr, liegt es an mir? Hat sich mein Geschmack geändert? Ich weiß es nicht. Ich spüre, dass ich versuchen sollte mir Klarheit zu verschaffen, warum ich in dieser Situation bin.
Nächster Tag. Ich hole neue Ernährungsprotokolle in der Sprechzeit von Frau T. ab. Das Schweineohr-Debakel habe ich immer noch im Kopf. Also frage ich Frau T. weshalb die Bäcker die Schweineohren heute anders backen als früher? SCHOCKER: Sie hat keine Ahnung weil sie keine isst! Völliges Unverständnis meinerseits, da es sich doch um ein ausgesprochen leckeres regionales Backwerk handelt. Da ich es anscheinend mit einer unbedarften Person in Sachen Schweineohr zu tun habe, versuche ich die geschmacklichen Unterschiede zwischen Schweineohren vor 40 Jahren und dem gestrigen Exemplar zu erläutern. Nachdem ich das klargestellt habe, komme ich zu meiner eigentlichen Frage: „Warum habe ich das Schweinohr aufgegessen, wo ich doch schon nach einigen-gut nach dem ersten Bissen – wusste, dass es mir nicht schmeckt?“
Offenbar handelt es sich um eine komplexe therapeutische Fragestellung, die sich nicht mit einer Zutatenliste beantworten lässt. Das war der Punkt in dem ich meine Reha mal wieder als anstrengend empfand … Statt einer Antwort bekomme ich eine Geschichte (oder Legende, oder Märchen – was auch immer) mit auf den Weg. Die Story: Ein König lässt sich von sämtlichen Köchen seines Reiches eine bestimmte Suppe kochen. Spoileralarm: die Suppe schmeckt immer anders als der König es in Erinnerung hatte. Irgendwo im Königreich wird dann noch ein alter Mann „ausgebuddelt“ der vielleicht das Süppchen kochen könnte. Bevor der allerdings anfängt, lässt er sich von dem König erzählen, wann unter welchen Umständen er die Suppe gegessen hat. Kurz zusammenfasst: Krieg, Flucht, mit dem Pferd und Vater unterwegs, erschöpft, einsame Hütte im Wald, Jäger, Suppe über dem Feuer, in Sicherheit. Großer Auftritt weiser alter Mann: welche Zutaten man nimmt es eigentlich völlig wumpe, da die notwendigen Gewürze fehlen: das Gewürz der Angst, der Hoffnung, der Kälte, der Erleichterung, der Sicherheit usw.
Toll! Jetzt sind Emotionen noch Gewürze! Warum stelle ich auch immer so dusselige Fragen?! Heute frage ich mich mal wieder welche Herausforderungen im Esssetting noch so alles warten. Also wirklich! Leichte Genervtheit macht sich bei mir breit. Geht hier irgendwas einmal auch ohne Gefühle?!? Am besten vergesse ich einfach dieses blöde Schweineohr. Keins mehr kaufen – dann kannste auch nicht enttäuscht werden.
… Andererseits, könnte es doch irgendwo noch einen vernünftigen Bäcker geben, der dennoch gute Schweineohren backen kann. Mal ehrlich – das kann doch nicht so schwer sein.
Ach was! Erst einmal sacken lassen.
Habe gerade Mittag gegessen, das Schweineohr nervt noch immer! Außerdem habe ich mein Mittag nicht aufgegessen – da ich satt war. Ich habe den Rest weggeworfen. Leckere Nudeln mit Käsesauce, Knoblauch und frischen Basilikum. War wirklich lecker. Das kann ich einfach wegwerfen, aber ein „olles“ Schweineohr muss ich aufgegessen??? Wahrscheinlich träume ich heute Nacht noch von dem blöden Ding.
1:0 für die Therapeutin. Warum mag ich eigentlich Schweineohren so gern?
Wann ist diese Liebe entstanden?
Könnte mir vorstellen, dass ich jemand kenne, der auch eine Leidenschaft für Schweineohren hat … Naja vielleicht sind es bei ihm er Pfannkuchen. „M.“ Er war mein Sandkastenfreund. Ich glaube wir haben schon in einem Alter Zeit miteinander verbracht, an die wir keine Erinnerung mehr haben. Unsere Mütter waren und sind heute noch befreundet. Er ist 28 Tage älter als ich, wir sind zusammen aufgewachsen und in die gleichen Schulen, die gleichen Klassen gegangen. Auch sind wir in die Wohnungen des anderen ein-und ausgegangen. In meiner Kindheit sind Mütter nicht einkaufen gefahren, sondern der Einkauf wurde zu Fuß erledigt. Ja, und nicht schulpflichtige Kinder mussten halt mitlatschen. Das war aber – so glaube ich – nicht ganz so ätzend wie es klingt, da mein Kumpel ja auch immer mit musste.
Wenn ich meiner Mutter Glauben schenke, dann haben M. und ich wohl auf diesen Einkaufstouren die großen Fragen des Universums debattiert. Jedenfalls waren wir ständig am „Schnattern“ und „Diskutieren“. Zugegeben in einer Sprache, die für unsere Mütter verständlich war, für uns beide aber gut funktioniert hat. Die vorgenannte Quelle besagt auch, dass es teilweise hoch her ging wir uns jedoch nie gestritten haben. Immer haben wir die Kurve bekommen (wahrscheinlich habe ich schon geübt, richtig mit Worten umzugehen).
Naja, jedenfalls war man zu Fuß mit uns beiden pro Weg mindestens eine halbe Stunde unterwegs. Was soll ich sagen, bei einigen dieser Exkursion gönnten sich unsere Mütter einen Kaffee und ein Gebäckteil (hier könnte ich erwähnen, dass meine Mutter Streuselschnecken liebt).
Wenn wir beim Bäcker waren und ich durfte etwas für uns Kinder aussuchen, dann für mich ein Schweineohr, M. war die Pfannkuchenfraktion. Aber Pfannkuchen mag ich auch. Egal ob Schweine oder Pfannkuchen, dass wir Kinder es uns teilten war dann ein besonderes Highlight für uns beide.
Hatte ich erwähnt, dass ich eine tolle Kindheit hatte? Mit einem besten Freund durch die gesamte Schulzeit, unbeschwerte Tage, Spaß, Freude und ohne Sorgen.
Besteht eine Verbindung zwischen dem „König und dem alten, weisen Mann“ und meinem Schweineohr, dann müssten in mein Schweineohr neben den üblichen Zutaten auch noch Unbeschwertheit, Freude, Freundschaft, Zuversicht und Liebe eingebacken werden.
Irgendwie komme ich mir blöd vor. In der Selbstversorgerküche hat ein Rehabilitand ein Buch mit dem Titel „Wenn du Orange willst, such nicht im Blaubeerfeld“ hinterlassen. Ich habe gerade eine Geschichte geschrieben mit der Botschaft „Wenn du dich an die glücklichen Augenblicke deiner Kindheit erinnern möchtest, dann such sie nicht in einem Schweineohr!“
Silvia N.
„Ex-Schweineohr-Liebhaberin“